Die Potenzierung ist eines der charakteristischsten Merkmale der Homöopathie und zugleich einer ihrer umstrittensten Aspekte. Dieses spezielle Herstellungsverfahren unterscheidet homöopathische Arzneimittel grundlegend von allen anderen Medikamenten. Um zu verstehen, warum Homöopathen diesem Verfahren so grosse Bedeutung beimessen, lohnt sich ein genauerer Blick auf seine Entstehung und Durchführung.
Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, entwickelte die Potenzierung aus einer praktischen Notwendigkeit heraus. Viele der von ihm verwendeten Substanzen waren in ihrer Urform giftig oder verursachten starke Reaktionen. Hahnemann suchte nach einem Weg, die erwünschte Heilwirkung zu erhalten, während er die unerwünschten Nebenwirkungen reduzierte. Er begann, die Arzneien schrittweise zu verdünnen.
Mehr als nur Verdünnung
Entscheidend ist, dass Potenzierung nicht einfach nur Verdünnung bedeutet. Zwischen jedem Verdünnungsschritt wird die Substanz intensiv verschüttelt. Hahnemann verwendete dafür kräftige Schläge auf eine elastische Unterlage, oft ein ledergebundenes Buch. Diesen Vorgang nannte er «Dynamisierung», da er glaubte, dass dadurch die heilenden Kräfte der Substanz freigesetzt oder verstärkt würden.
Die Beobachtungen, die Hahnemann bei seinen Patienten machte, erstaunten ihn selbst. Je mehr er die Arzneien verdünnte und verschüttelte, desto sanfter schienen sie zu wirken, ohne an Wirksamkeit zu verlieren. Im Gegenteil: Die Wirkung schien tiefgreifender und nachhaltiger zu werden. Diese Erfahrung führte zur Entwicklung immer höherer Potenzstufen.
Die Potenzierung soll nach homöopathischer Auffassung die «geistartige» oder «dynamische» Kraft der Ausgangssubstanz freisetzen. Es geht dabei nicht um die stoffliche Konzentration, sondern um eine Art Information oder Energie, die dem Trägermaterial eingeprägt wird.
Die verschiedenen Potenzstufen
In der homöopathischen Praxis werden verschiedene Potenzierungsarten verwendet, die sich im Verdünnungsverhältnis unterscheiden. Die gebräuchlichsten sind die D-Potenzen, die C-Potenzen und die LM-Potenzen, auch Q-Potenzen genannt.
Eine D6 bedeutet beispielsweise, dass die Ausgangssubstanz sechsmal im Verhältnis 1:10 verdünnt und verschüttelt wurde. Eine C30 wurde dreissigmal im Verhältnis 1:100 potenziert. Die Zahl gibt also die Anzahl der Potenzierungsschritte an, nicht die absolute Verdünnung.
Die Frage der Moleküle
Ab einer bestimmten Potenz, etwa ab C12 oder D24, ist nach den Gesetzen der Chemie statistisch gesehen kein einziges Molekül der Ausgangssubstanz mehr in der Lösung enthalten. Dies ist der Hauptkritikpunkt der naturwissenschaftlich orientierten Medizin an der Homöopathie. Wie kann etwas wirken, von dem nichts mehr vorhanden ist?
Homöopathen antworten auf diese Frage unterschiedlich. Manche verweisen auf mögliche physikalische Phänomene wie das «Gedächtnis des Wassers», andere betonen, dass die Wirkung auf einer feinstofflichen Ebene stattfinde, die mit heutigen Messmethoden noch nicht erfasst werden könne. Wieder andere sehen in den tiefen Potenzen, die noch Moleküle enthalten, die eigentliche Wirksamkeit und verwenden bevorzugt niedrige Potenzierungen.
Anwendung in der Praxis
Die Wahl der richtigen Potenz ist ein wichtiger Teil der homöopathischen Kunst. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: der Zustand des Patienten, die Art der Erkrankung, ob es sich um ein akutes oder chronisches Geschehen handelt, und die Empfindlichkeit des Patienten.
Generell gilt, dass niedrige Potenzen häufiger wiederholt werden können und eher bei akuten körperlichen Beschwerden eingesetzt werden. Hohe Potenzen werden seltener gegeben und sind nach klassisch homöopathischer Auffassung besonders bei seelischen und langfristigen Beschwerden angezeigt. Die LM-Potenzen ermöglichen eine besonders sanfte und dennoch tiefgreifende Behandlung.
Unabhängig davon, wie man zur wissenschaftlichen Debatte steht, zeigt die Potenzierung eines deutlich: Die Homöopathie verfolgt einen grundlegend anderen Ansatz als die konventionelle Medizin. Sie arbeitet nicht mit grossen Stoffmengen, sondern mit minimalen Impulsen, die die Selbstheilungskräfte des Organismus anregen sollen. Ob und wie dies funktioniert, bleibt eine der spannenden offenen Fragen der Medizin.